Ich schaue mich um im Atelier - ein Augenpaar, schwarz glühend schaut mich an: Fatima.
"Meine Aquarelle haben Augen bekommen", stelle ich trocken fest. Plötzlich taucht eine starke Erinnerung auf: Tunesien. Fatima im Bus zwischen den Oasen Gabée und Gafsa. Meine Freundin sitzt neben mir auf dem Koffer, ich stehe. Wir sind die einzigen Europäer.
An einer Haltestelle in der Steinwüste steigt sie ein, schwarzäugig, mit einem Umhang, der wesentlich schöner ist als die Decken, die ich im Museum gesehen habe. Ich schaue. Sie setzt sich auf den Platz vor uns, von ganz nahe kann ich die Webarbeit, die feine verspielte und kraftvolle Stickerei bewundern. Die hier haben einfach mehr Sonne als wir gräulichen Europäer, geschlagen mit Wolken, Winter und Regen. Ich schaue immer noch. Plötzlich dreht sich Fatima um, und sie schaut zuerst in die Augen meiner Freundin. Ich sehe zu wie die beiden Frauen einander anschauen - eine halbe Minute, eine Minute, zwei Minuten. Sie schauen.
Haben Sie schon einmal einen fremden Menschen drei Minuten lang angeschaut? Ohne etwas zu sagen?
Die beiden schauen sich immer noch an; jetzt schaut meine Freundin weg, zu mir. Wir begegnen uns in einem verstehenden Lächeln.
Vor mir dreht sich Fatima um - und nun schaut sie mich an; schaut und schaut. Zuerst blicke ich mit Scheu, dann mit Vergnügen in diese schönen, dunklen, glänzenden Augen. Eine halbe Minute, eine Minute - wohin schauen wir, wenn wir einander in die Augen sehen?
Zwei Minuten vielleicht, dann werde ich unruhig. Sie schaut. Schaut sie einfach so oder was sieht sie?
Ich schlucke leer, schaue weiter und weiss plötzlich, dass ich wenig vorher weniger gesehen und geschaut habe...
Fatima schaut. Die Begegnung mit ihr unter afrikanischer Sonne, im reinen und hellen Licht hat mir auf unerwartete Weise meine Augen, mein Schauen geschenkt oder neu gegeben. Und ich weiss: Schauen ist: lange schauen, gründlich schauen, wirken lassen.
Eugen Bänziger, 1975
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